Die bayerische Staatsregierung hat in dieser Woche einen Beschluss auf den Weg gebracht, der nicht nur fassungslos, sondern vor allem auch wütend macht. CSU und Freie Wähler verschließen mit ihrem Schnellschuss zu verpflichtenden Sprachtests in Kindergärten die Augen vor Fakten und betreiben Symbolpolitik auf dem Rücken kleiner Kinder und deren Familien – auch um Applaus vom politischen rechten Rand einzuheimsen.
Verpflichtende Sprachtests in Bayern
Der Plan: Ab März 2025 müssen alle Kinder in Bayern 1,5 Jahre vor ihrem Grundschulstart einen verpflichtenden Sprachtest machen.
"Kinder mit Defiziten", wie Staatskanzleiminister Florian Herrmann (CSU) diejenigen bezeichnet, die durchfallen, sollen dann in speziellen Kindergärten gesammelt werden, die einen Vorkurs Deutsch anbieten (sofern sie nicht das Glück haben, dass ihr eigener dies tut).
Das betrifft insbesondere auch Kinder, die bislang keinen Kindergarten besucht haben, denn eine Kindergartenpflicht gibt es in Bayern – eigentlich – nicht.
Sprachdefizite ausgleichen – aber wie?
Nun spricht grundsätzlich überhaupt nichts dagegen, dass "Sprachdefizite ausgeglichen" werden sollten, da Kinder "sonst ihrer Startchancen beraubt" würden, wie Herrmann nach der Kabinettsitzung in München sagte. Ganz im Gegenteil: Es steht außer Frage, dass Deutschkenntnisse ein zentraler Aspekt von Integration und entscheidend dafür sind, dass Kinder dem Schulunterricht folgen können.
Doch jetzt kommt das Aber: Ein verpflichtender Sprachtest ist keine Förderung, sondern eine Diagnose. Verbunden mit einem Label, das Kindern aufgedrückt wird und sie sortiert in geeignet und ungeeignet. Eine Diagnose, hinter der in keiner Weise ein Plan steht. Nicht einmal das Konzept eines Plans.
Das ist nicht nur bedauerlich, sondern höchst fahrlässig, denn es sind vierjährige Kinder, über die hier bestimmt wird.
Ab März 2025 (in sechs Monaten!) sollen die bayerischen Grundschulen die ersten Sprachtests durchführen.
Wie die unterbesetzten Grundschulen die zusätzliche Arbeit stemmen sollen? Unklar.
Wie die unterbesetzten Kindergärten die Deutsch-Förderkurse stemmen sollen? Unklar.
Wie diese Tests aussehen sollen? Unklar.
Wie hoch der Schwierigkeitsgrad sein wird? Unklar.
Was Eltern machen sollen, in deren näherer Umgebung kein Vorkurs Deutsch angeboten wird? Unklar.
Welche Auswirkungen es auf Kinder hat, wenn sie als "nicht gut genug" aussortiert werden und unter Umständen ihren Kindergarten, den sie seit zwei Jahren besuchen und wo ihre Freunde sind, verlassen müssen, um sich für ein Jahr in einen neuen einzugewöhnen? Anscheinend egal.
Was passiert, wenn Kinder den Sprachtest nicht besuchen? Ist natürlich schon klar – ein Bußgeld wird erhoben.
Die eigentlichen Probleme
Laut Grünen und SPD im bayerischen Landtag ist das Angebot an Vorkursen von 2020 bis 2023 um 15 Prozent zurückgegangen. 18.800 Erzieher*innen fehlen derzeit in bayerischen Kindertagesstätten. Das Kultusministerium in Bayern teilte am 6. September mit, dass für dieses Schuljahr an den staatlichen Grund- und Mittelschulen noch 850 Vollzeitstellen unbesetzt sind.
Dass Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und seine Regierung die Fakten nicht kennen, ist unwahrscheinlich – wahrscheinlicher ist, dass CSU und Freie Wähler sie bewusst ignorieren, um Applaus einzuheimsen für ihren Schnellschuss-Beschluss, der vermeintlich dafür sorgt, dass jede*r Deutsch lernt.
Expert*innen sind klar gegen den Beschluss
Sowohl der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) als auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sprechen über die verpflichtenden Sprachtests ein vernichtendes Urteil aus.
BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann warnte bereits im Juli im "BR" davor, dass es jetzt schon zu wenig Deutsch-Vorkurse gebe und diese häufig nicht einmal von ausgebildeten Lehrer*innen durchgeführt würden.
Es brauche zwar frühzeitige Diagnostik, doch "wir können uns in keinster Weise vorstellen, wer dann nach der Diagnose die Förderung durchführen solle."
Mit Blick auf den Personalnotstand sagte sie: "Wenn wir dann niemand haben, pfeifen wir auf die Diagnose."
Es fehle also nicht nur an Qualität, sondern auch an Quantität. Fleischmann wirf Ministerpräsident Söder außerdem vor, es sich leicht zu machen: "Und wo ist der nächste Schritt?" Auch den Fokus auf die Sprache kritisierte sie, Viereinhalbjährige hätten auch in anderen Bereichen Förderbedarf wie bei psychischen oder motorischen Störungen: "Die sollten wir auch aufholen und nicht nur die Sprachdefizite."
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wandte sich bereits im Februar in einem offenen Brief direkt an das bayerische Sozial- und Kultusministerium und schrieb:
"Diesen verpflichtenden Sprachtests erteilen wir eine klare Absage! Im Hinblick auf die in Bayern bereits vorhandenen Gegebenheiten, im Zuge derer die Förderung der Kinder im Kindergarten in speziell zu diesem Zweck etablierten Vorkursen bereits systematisch erfolgt, bringen Sprachtests keine Vorteile mit sich. Vielmehr würden diese ohnehin knappe Ressourcen weiter belasten und für die betroffenen Kinder starke emotionale Belastungen und Stress bedeuten."
Verpflichtende Sprachtests brächten nichts außer Ressourcen- und Zeitverschwendung.
Hilger Uhlenbrock von der GEW äußerte im "BR" außerdem die Sorge, dass "letztendlich einfach wieder Kinder aussortiert werden", obwohl sich der Freistaat mit dem Thema Inklusion schmücken würde.
Fehlbeschluss der bayerischen Staatsregierung
Die bayerische Staatsregierung gaukelt mit ihrem Beschluss verpflichtender Sprachtests vor, Kinder fördern zu wollen. Dabei geht es CSU und Freien Wählern lediglich darum, im Zuge der sich weiter verschärfenden Migrationsdebatte Härte zu demonstrieren, indem sie Kinder mit Sprachdefiziten einen Problem-Stempel aufdrückt und sie völlig ohne Plan zur Nachhilfe zusammen scheucht.
Das ist weder christlich noch sozial. Und ausbaden müssen diesen Fehlbeschluss am Ende nicht nur die völlig überlasteten Lehrer*innen und Erzieher*innen, sondern vor allem die Kinder.
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Viel Personal wird benötigt…
Viel Personal wird benötigt für die Betreuung der unter dreijaehrigen.
Kinder die nicht sprechen und nicht laufen koennen.
Die frühkindliche Bildung den Eltern zugestehen und dann ab drei Jahren die Betreuung im Kollektiv.
Sprache erst zu Hause lernen und vielleicht Eltern dabei unterstuetzen.
Oder Eltern unterstützen sich gegenseitig.
Das komplexe Thema wird von…
Das komplexe Thema wird von der Politik weder fachlich noch lösungsorientiert angegangen. Es geht nicht nur um mangelnde Sprachkompetenzen und die dazugehörende Diagnostik, das Problem ist viel grösser: Wir haben nicht nur zunehmend Kinder mit Sprachdefiziten, wir haben vor allem zunehmend Kinder mit motorischen und sozial-emotionalen Problemstellungen. Die Frühförderstellen werden seit geraumer Zeit mit Anfragen überrannt. Kitas bieten Eltern inzwischen teilweise keine integrative Plätze mehr an, da sie schon 2 integrativ Plätze besetzt haben, sonst müssten sie integrative Gruppen oder gar eine Integrative Einrichtung mit einer veränderten Betriebserlaubnis und all daraus resultierenden Folgen (Reduzierung Gruppengröße, mehr Personal) beantragen, was die Jugendämter aber eigentlich gar nicht wollen (Reduktion der zur Verfügung stehenden Plätze in der Region, es fehlen sowieso fast überall Kita Plätze ). Eltern wiederum lehnen auch oft das Angebot von Frühförderung oder einem integrativen Kita Platz ab, da sie Angst vor einer Stigmatisierung mit dem Label Behinderung ihrer Kinder haben. Dies führt dazu, dass es in vielen Kita Gruppen Kinder mit Förderbedarf gibt, die aber dann keine gezielte Förderung bekommen. Diese Kinder schlagen dann in der Grundschule auf und die Lehrer fragen sich, was die Kita alles versäumt hat. Ein Teufelskreislauf.
Es gibt keine einfache Lösungen dafür, aber ein Anfang wäre:
- Heilpädagog*innen als zusätzliche personale Grundausstattung in jeder Kita (gerne auch mit Ergos etc.). Heilpädagog*innen sind DIE Spezialisten für eine ganzheitliche Förderung in Kitas und Frühförderstellen
-Ausweitung der gesetzlichen Regelung, Frühförderstellen sind DIE wichtigsten Anlaufstellen für Familien und Kitas, Ausbau des Frühfördernetzes und vor allem Ausweitung der Hilfe für die gesamte Grundschulzeit (bisher endet die Hilfe mit Schuleintritt)
- Abschaffen oder Zumindest Reduktion des sog. vereinfachten Verfahrens mit 10 Fachdienststunden für integrative Plätze. Die Hilfe kommt nämlich nicht beim Kind an, die meisten Kinder brauchen 50 Fachdienststunden. Viele Träger sind auch überfordert die 50 Stunden zu beantragen, da ihnen entweder der Aufwand zu hoch ist (lieber 10 Stunden als gar nix) oder Ihnen das fachliche Know How fehlt (da z.B keine Heilpädagog*innen vor Ort sind)
- Reduktion der Kindergruppengrösse von 25 auf unter 20
- Abbau von offenen Konzepten hinzu teiloffen. Gerade Kinder mit Entwicklungsproblemen sind mit offenen Konzepten überfordert, überschaubare Gruppen mit festem Beziehungsangebot zumindest in der Kernzeit sind wichtig.
- Veränderung der baulichen Verordnung für Neubauten: Bei Neubauten sind die Mindestgrössen für Gruppenräume und Bewegungsraum, Förderräume viel zu klein bemessen
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