Neulich ließ ich meinen gut dreijährigen Sohn im ICE auf meinem Smartphone ein Youtube-Video anschauen, in dem verschiedene bunte Fahrzeuge Rutschen hinuntersausen (aus irgendeinem Grund findet er das unglaublich faszinierend), und spürte dabei plötzlich den Blick einer allein reisenden Seniorin auf mir. Als ich ihr in die Augen schaute, hob sie pikiert die Augenbrauen und wendete sich dann demonstrativ wieder ab.

Gut, die Botschaft war angekommen: Ich bin eine schlechte Mutter, die ihr Kind immer nur vor das Handy setzt und es sich leicht macht. Ganz nach dem Motto: "Früher ging es doch auch ohne."

Sitzen Kinder nur noch vor dem Handy? 

Was sie nicht wusste: Hinter mir und meinem Sohn lag ein langes, anstrengendes Wochenende. Wir waren auf einer emotional aufwühlenden Beerdigung gewesen, hatten viele Menschen getroffen, wir hatten an diesem Tag schon intensiv Verstecken gespielt und Bilder gemalt, uns auf einem Spielplatz verausgabt, es war schon der zweite Zug, in dem wir saßen und er war die ganz Zeit über unglaublich kooperativ und fröhlich gewesen. Wir beide, vor allem aber ich, waren in diesem Moment sehr erschöpft. 

Die 20 Minuten, in denen mein Dreijähriger fröhlich den Autos zusah, gaben mir die Zeit, mich einmal an diesem langen Tag ungestört zurückzulehnen, die Augen zu schließen und meinen Kaffee zu trinken. Wäre da nur nicht das schlechte Gewissen, das mir eingetrichtert wurde und das natürlich auch irgendwo aus meinem Inneren kommt.

Machen wir Eltern heutzutage alles falsch?

Nach drei Jahren Mutterdasein habe ich mich langsam daran gewöhnt, dass man, zumindest in Deutschland, in der Öffentlichkeit mit Kind ständig bewertet und beurteilt, meist verurteilt wird. Trotzdem ist es schwierig, sich nicht beeinflussen zu lassen und eine eigene, selbstbewusste Haltung einzunehmen. Das Thema Medienkonsum von Kindern ist dabei eines der herausforderndsten.

Auf keinen Fall ein Kind unter drei Jahren vor den Bildschirm lassen, lautet die gängige Empfehlung oder besser Drohung, die mir von allen Seiten entgegenschlägt. Sogar ein christlicher Influencer postete vor ein paar Wochen etwas dazu, wobei ich mich vor allem gefragt habe, was ihn als Theologen eigentlich qualifiziert, zu diesem Thema Stellung zu beziehen. 

Aufwachsen ohne Bildschirm

Wer im Jahr 2024 in einer Großstadt wie München als Elternteil, der sowohl privat als auch beruflich Smartphones nutzt, versucht, dieses Ziel zu 100 Prozent umzusetzen, muss scheitern. Es gibt Großbildschirme in U-Bahnhöfen, Bildschirme in Bussen, digitale Infotafeln in Einkaufszentren, Oma und Opa wohnen weit weg und haben nur per Videotelefonie die Chance auf ein halbwegs echtes Gespräch mit ihrem Enkel, wir bezahlen per Smartphone, navigieren uns per Smartphone zu Terminen, sprechen uns als Eltern tagsüber per Whatsapp ab, bestellen neue Gummistiefel per Smartphone und, und, und.

Natürlich ging es früher auch ohne. Weil es früher auch ohne gehen musste. Weil die Welt eine andere war – und vor allem keine digitale.

Medien zu verteufeln und Eltern von Kleinkindern immer wieder ein "Null-Bildschirmzeit-Ziel" vor die Nase zu halten, bringt uns überhaupt nichts außer zusätzlichen Druck und ein Gefühl des Versagens. Und nein danke, davon haben wir wahrlich schon genug.

Meine Generation ist die erste Elterngeneration, deren Kinder von Geburt an mit digitalen Geräten konfrontiert sind. Das ist nicht schlechter oder besser als früher, es ist einfach neu. Es liegt an mir, auszuprobieren und Lösungen zu finden, wie mein Sohn einen gesunden Umgang mit Medien entwickeln kann, denn kein Umgang mit Medien ist auf Dauer keine Option mehr. Und ja, es ist anstrengend, es ist schwierig. Erst recht, wenn man von außen Druck bekommt.

Umgang mit Medien

Oft beobachte ich bei diesem Thema auch eine gewisse Scheinheiligkeit, die mich ärgert. Eltern, die ihrem Kind das Handy, nach dem es neugierig gegriffen hat, mit einem lauten "NEIN" aus der Hand reißen, selbst aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit dahinter verschwinden. Eltern, die ihrem Kind eindringlich erklären, dass Lesen und frische Luft zum Ausgleich viel sinnvoller und gesünder sind als ihre Fernsehsendungen, aber selbst abends, sobald es ruhig ist, gestresst auf die Couch fallen und vor dem Schlafengehen noch drei Stunden Netflix schauen. (Nicht, dass ich das nicht auch oft abends mache, aber ich hoffe, es ist klar, was ich damit meine.)

Wie also gehe ich jetzt tatsächlich mit dem Medienkonsum unseres Sohnes um?

  • Ich informiere mich. Spreche mit anderen Eltern über ihre Erfahrungen und Methoden, schaue mir an, was Expert*innen tatsächlich empfehlen und welche Studien dahinter stecken, lese Bücher (und ja, auch in den sozialen Medien) zu diesem Thema. Das Fazit, das ich daraus für mich ziehe, lautet: Auf die Mischung kommt es an. Ja, es gibt Hinweise darauf, dass intensiver Medienkonsum für Kleinkinder ungesund sein kann - laut aktuellen Studien des US-Wissenschaftlers Dylan B. Jackson vor allem in Kombination mit anderen problematischen Faktoren. Die Journalistin und Erziehungsexpertin Nora Imlau bringt es in ihrem Buch "Bindung ohne Burnout" auf den Punkt:

"Ein Kind, das ohne Gespräche, ohne Kuscheln, ohne Vorlesen, ohne Spielen und ohne Naturerfahrungen quasi allein vor nicht kindgerechten Sendungen aufwächst, hat ein echtes Problem. Ein Kind hingegen, das in einem liebevollen, kommunikativen Elternhaus mit vielfältigen Sinneserfahrungen aufwächst, das also im Alltag viel spielt und liest und singt und lacht und buddelt und backt und rennt, kann kaum so viel Bobo Siebenschläfer gucken, dass es ihm schaden könnte".

  • Wir haben (Stand jetzt) keine Regeln, wann und wie lange unser Kind am Tag etwas auf dem Handy oder im Fernsehen anschauen darf. Ganz einfach, weil ich mir sicher bin, dass eine Vorgabe wie "10 Minuten täglich nach dem Mittagessen" dazu führen würde, dass er diese 10 Minuten jeden Tag einfordert, egal ob er wirklich Lust zu schauen hat, oder nicht. Stattdessen gibt es Tage, an denen er gar nicht schaut und wir stattdessen Bücher lesen, Auto spielen, was auch immer, aber es gibt auch Tage, an denen er länger als 10 Minuten schaut. Angepasst an seine und unsere Bedürfnisse an den einzelnen Tagen.
  • Wir behandeln unsere Smartphones wie ganz normale Alltagsgegenstände. Man nimmt es in die Hand und legt es wieder weg, genauso wie mein Sohn mein Handy in die Hand nehmen darf, um ein paar Buchstaben zu tippen oder Fotos anzuschauen, und es dann wieder weglegt. Je weniger Drama um einen Gegenstand gemacht wird, desto langweiliger ist er für das Kind und desto normaler ist der Umgang damit.
  • Ich begleite meinen Sohn beim Anschauen des Videos, beobachte ihn währenddessen und vor allem danach immer wieder. Idealerweise spreche ich zwischendurch mit ihm über das Video. Mach nicht einfach irgendwann aus, sondern bespreche mit ihm, wann er selbst ausmacht. "Lass uns noch den fünf Fahrzeugen beim Wegfahren zuschauen, dann kannst du den Aus-Knopf drücken." In den allermeisten Fällen klappt das. In den allermeisten Fällen hüpft er während des Zuschauens wie ein Flummi auf dem Sofa herum und erzählt begeistert, was gerade im Video passiert und ist eben nicht wie gelähmt vor dem Fernseher geparkt.
  • Ich ignoriere realitätsferne Empfehlungen und konzentriere mich stattdessen auf die wirklichen Bedürfnisse von uns als Familie. Auf seine, aber auch auf meine. Bin ich ausgeschlafen und fit, fahre ich mit ihm auf einen neuen Spielplatz und wir rutschen gefühlte fünfzigmal. Wurde ich in der Nacht dreimal geweckt, habe gearbeitet und bin völlig erschöpft, darf er sich eine Weile etwas anschauen, während ich mich ausruhe oder wenigstens in Ruhe das Abendessen zubereiten. Genau so schaue ich auf ihn. Lieber gönne ich uns beiden an solchen Tagen eine kurze Videopause, als dass am Ende jemandem die Nerven durchgehen. 
  • Ich arbeite an meinem eigenen Medienkonsum. In den letzten zehn Jahren habe ich viel Zeit am Bildschirm verbracht. Ich arbeite digital, ich entspanne oft digital und das Smartphone ist (vor allem seit ich ein Kind habe) mein Kontaktgerät zur Außenwelt. Ich sehe darin viel Positives. Gleichzeitig weiß ich natürlich auch, wie wertvoll und wichtig es ist, im realen Hier und Jetzt zu leben. Ich versuche immer, das Handy wegzulegen, wenn ich mit meinem Sohn spiele. Ich versuche, lieber ein Buch zu lesen, wenn ich am Rand des Spielplatzes sitze, oder einfach direkt mitzuspielen. Ich möchte ihm zeigen, dass es tolle Momente gibt, in denen es nichts Digitales gibt und in denen wir ganz präsent sind.

Wenn ich eines als Elternteil gelernt habe, dann, dass nichts für immer ist. Phasen kommen und gehen, ständige Veränderung gehört dazu. Deshalb gebe ich mich nicht der Illusion hin, hier den heiligen Gral des Umgangs mit Medienkonsum gefunden zu haben, aber ich bin mir sicher, dass wir uns auch bei diesem Thema immer wieder anpassen müssen. Ganz nach unseren Bedürfnissen. 

Kommentare

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Michael.Hoffma… am So, 11.08.2024 - 08:04 Link

Hallo Larissa,
Das hat mir sehr gut geholfen für den Umgang mit meinen Enkelkindern, wie differenziert Du die Situation darstellst.
Vielleicht findest Du es übertrieben, aber ich hätte von Dir als Theologin auch erwartet, dass irgendein Bezug auf Gott oder zumindest die Bibel in Deinen Überlegungen vorkommt...LG Michael

Larissa Launhardt am Mo, 12.08.2024 - 10:16 Link

Lieber Michael, vielen Dank für deine Rückmeldung zu meinem Artikel. Ich bin tatsächlich keine Theologin, sondern ausgebildete Redakteurin und in diesem Fall sehe ich auch einfach keinen Bezug zwischen digitalen Medien und der Bibel – hast du vielleicht eine Idee? 

Herzliche Grüße, Larissa