"Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir" – dieser Satz zieht sich bis heute durch Klassenzimmer und Schulabschlussreden.
Was viele nicht wissen: Ursprünglich war er keine pädagogische Weisheit, sondern Ironie. Der römische Philosoph Seneca schrieb seinem Schüler Lucilius im 1. Jahrhundert nach Christus: "Non vitae, sed scholae discimus" – nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir. Seine Kritik: Ein Bildungssystem, das sich in theoretischen Luftschlössern verliert und den Bezug zur Wirklichkeit verfehlt.
Ein Vorwurf, der bis heute nachhallt – besonders hartnäckig im Fall des Lateinunterrichts. Ist Latein wirklich überholt, elitär, nutzlos? Oder liegt gerade in der scheinbaren Totenstarre dieser Sprache ihre besondere Kraft?
Ein Pro und Contra.
Pro: Warum wir mit unserem Latein noch lange nicht am Ende sind
Die Frage, warum Schüler*innen noch Vokabeln einer "toten" Sprache büffeln sollen, statt sich aufs internationale "parler" zu fokussieren, verfehlt den Punkt. Latein steht nicht im Wettstreit mit Französisch oder Spanisch. Es ist keine lebendige Sprache, sondern ein analytisches Instrument. Eines, mit dem sich Sprache zerlegen lässt, bis auf ihre Grundstruktur. Das Objektiv, durch das Grammatik, Satzbau, Bedeutung plötzlich scharf werden.
Latein ist Sprachlehre, keine Fremdsprache
Latein ist keine Fremdsprache im eigentlichen Sinn - es ist Sprachlehre. Wer sie lernt, tut das nicht, um im Urlaub einen Kaffee zu bestellen, sondern um Sprache als solche besser zu verstehen. Tiefer, analytischer, weniger oberflächlich. Im Fächerkanon gehört Latein deshalb nicht zu den modernen Sprachen, sondern bildet eine eigene Kategorie: Sprachmethodik.
Latein legt frei, wie Sprache konstruiert ist – Schicht für Schicht. Wer einmal einen lateinischen Satz zergliedert hat, erkennt schneller, wie ein deutscher, französischer oder englischer Satz gebaut ist. Latein funktioniert wie ein Seziermesser. Wofür man vorher blind war, wird plötzlich sichtbar. Grammatik wird durchschaubar, weil sie in ihre Einzelteile zerlegt wird. Und es rüstet aus. Wer versteht, wie Sprache funktioniert, weiß auch, wie sie manipuliert werden kann. Latein trainiert nicht das Sprechen – sondern das Denken.
Warum ausgerechnet Latein – und keine andere alte Sprache?
Warum nicht Sumerisch, Sanskrit oder Altenglisch – oder eine der anderen Sprachen, die niemand mehr spricht? Latein ist die europäischste unter den alten Sprachen. Ihre Spuren finden sich in nahezu jeder modernen Sprache dieses Kontinents wieder.
Sie ist die Nonna der romanischen Sprachen: Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch - alle gehen auf sie zurück. Aber auch im Deutschen und Englischen finden sich einige Wörter mit lateinischer Wurzel wieder. Latein begegnet uns "de facto" täglich – beim "Doktor", im "Studium", im "Labor" und vier Jahre lang als "Virus".
Tot, aber wirksam: Wie Latein das Denken schult
Dass Latein "tot" ist, macht es paradoxerweise lebendig für den Geist: Die Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf den Text – auf das genaue Lesen, das Erkennen von Mustern und Brüchen, auf grammatische Beweisführung.
Übersetzen wird zur Detektivarbeit. Latein gibt selten klare Antworten – es verlangt Interpretation, Abwägung, Urteilskraft. Und es fördert fast beiläufig das, was überall gebraucht wird: strukturelles Denken, logische Argumentation, präzise Analyse.
Und es hat einen schönen Nebeneffekt: Wer Latein lernt, entwickelt ein feineres Gespür für Sprache – nicht nur für das Deutsche, sondern für jede. Das ständige Suchen nach der treffenden Übersetzung schärft das Bewusstsein für Stil, Rhythmus und Nuancen. Sprache wird zur Werkstatt: Man schraubt, probiert, verwirft – und setzt neu zusammen.
Latein als Zeitmaschine
Es ist vielleicht das nerdigste aller Argumente – aber auch das schönste: Latein ist eine Zeitmaschine. Ob Vergils "Aeneis", Ovids "Metamorphosen", Ciceros Reden oder mittelalterliche Chroniken – wer übersetzt, taucht ein in vergangene Denk- und Lebenswelten.
Man erfährt, was Menschen damals dachten, was sie liebten, fürchteten, verachteten. Wie sie über Liebe, Tod, Freiheit, Krieg, Frieden, Gerechtigkeit und Religion nachdachten – Fragen, die so alt sind wie neu.
Und ganz nüchtern: Für viele geistes- und sprachwissenschaftliche Studiengänge ist Latein bis heute Voraussetzung. Das ist vielleicht kein zeitloses Argument – aber ein gegenwärtig wirksames. Wer Augustinus im Original lesen will – oder bei Asterix und Obelix endlich verstehen möchte, was die Legionäre da murmeln – braucht einen Zugang. In diesem Fall ist es Latein.
(Eva Kingreen)
Contra: Sprachliche Vielfalt fördern statt Eliten zu bedienen
Latein als Sprache ist tot. Sätze aus uralten Kriegsberichten übersetzen zu können, nutzt heute im täglichen Leben und im Beruf kaum jemandem. Zeitgleich wird unsere Welt immer international vernetzter und Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, werden mehr.
Wäre es da nicht an der Zeit, Sprachen in die Schulen zu holen, die wir wirklich gebrauchen können? Latein sollte Türkisch, Arabisch oder Mandarin Platz machen.
Denken lernen geht auch ohne Latein
Selbst wenn Latein nicht mit anderen, lebendigen Sprachen in Konkurrenz stehen soll, gäbe es andere Möglichkeiten, an den Kern dessen zu kommen, was viele, die Latein befürworten, der Sprache zuschreiben: Denken lernen, Strukturen erkennen und dekonstruieren können.
Wie wäre es mit einer Computer-Sprache? Oder würde nicht philosophische Lehre einen ähnlichen Zweck erfüllen? Warum werden Schulkinder mit dem Lernen einer komplexen Sprache aufgehalten, wenn es am Ende um Fähigkeiten geht, die auch praxisnaher vermittelt werden könnten?
Latein als Sprachlehre zu komplex für Elfjährige
Sprachlehre und die Dekonstruktion einer Sprache, auf der andere Sprachen fußen, mag sinnvoll sein für die Oberstufe und das Studium. Aber eine Fünft- oder Sechstklässlerin, die gerade erst lernt, dass die Erde um die Sonne kreist, wird damit schlichtweg überfordert.
Latein geht in die Tiefe, kann beinah als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache verstanden werden. Diese Art des Denkens sollte an Schulen, wenn überhaupt, in den höheren Jahrgangsstufen gelehrt werden.
Latein verfestigt westeuropäische Kultur-Ideale und Abgrenzung
Latein zementiert, was auch andere Schulfächer deutlich machen: einen westeuropäischen Blick auf die Welt. Wenn Schulkinder schon eine alte Sprache lernen sollen, dann sollte diese den Blick weiten, statt das zu vertiefen, was wir eh schon kennen. Sumerisch, Sanskrit oder auch Altgriechisch wären Alternativen zu Latein.
Davon abgesehen, dass Latein ohnehin fast ausschließlich an Gymnasien gelehrt wird und damit eine eindeutige Abgrenzung zu anderen Schulformen schafft, wird auch innerhalb des Gymnasiums deutlich, dass Latein ein Fach für Akademikerkinder ist.
Wer nicht vorhat, Medizin zu studieren, kommt von sich aus wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, Latein zu wählen. Es sei denn, ein Kind ist eben bereits in einem bildungsnahen Akademikerhaushalt aufgewachsen, in dem eine Dekonstruktion romanischer Sprachen schon in der fünften Klasse als sinnvoll erachtet wird.
Das Latinum ist ausgrenzend und bildungsbürgerlich, es wird sich damit gebrüstet, Ovid im Original lesen zu können. Kinder aus bildungsfernen Familien wird der Bildungsaufstieg durch derartige Relikte nur noch weiter erschwert.
(Celine Edinger)
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Erkenntnis aus der päd. Psychologie und Neurowissenschaft: Clusterbildung. Kurz: Was in Latein gelernt wurde, lässt sich nicht auf andere Bereiche übertragen.