Es gibt Städte wie Weimar, Leipzig oder Frankfurt, in denen Goethe lebte und die mit dem wohl bedeutendsten deutschen Dichter daher werben – ebenso wie Städte, die sich einen Spaß aus diesem Etikett machen und sogar dafür werben, dass Goethe eben nicht hier gewesen ist. Und Nürnberg?
"Vier Mal war es sicher hier, wenngleich auch nur auf der Durchreise", sagt die langjährige Seminarlehrerin für Katholische Religionslehre, die erst seit kurzem im Ruhestand ist und jetzt wieder mehr Zeit für die auf das Jahr 1995 zurückgehende Gesellschaft von literarisch Interessierten hat.
So geht’s im Übrigen den meisten der rund 100 Mitglieder. "Viele kommen erst im gesetzteren Alter zu uns, weil sie sich zwar schon ihr Leben lang für Goethe und Literatur im Allgemeinen interessieren, aber erst im Ruhestand sich die Zeit nehmen können, im Verein mitzuwirken", spricht Leuser ein Dilemma an. Oder es geht den Mitgliedern wie ihr, die neben dem Job auch noch zahlreiche andere Ehrenämter hat. Die Mitarbeit in der theologischen Arbeitsgemeinschaft im christlich-jüdischen Dialog oder im Verband der katholischen Religionslehrer in Bayern liegen ihr dabei sehr am Herzen.
Nicht nur Goethe auf dem Programm
Aber freilich auch die Organisation des Jahresprogramms der Goethe-Gesellschaft, bei dem Leuser unter anderem von ihrem stellvertretenden Vorsitzenden Günther Kraus unterstützt wird. Rund ein Dutzend Veranstaltungen stehen auf der Liste. Die Vorträge finden in der Regel im Caritas-Pirckheimer-Haus oder dem evangelischen Haus der Kirche "eckstein" statt. In diesem Jahr beispielsweise zur Beziehung zwischen Napoleon und Goethe oder über seine Märchen als Reaktion auf die Französische Revolution. Aber auch andere Literaten wie Wieland und Klopstock, Zeitgenossen Goethes, werden ebenso wie Franz Kafka behandelt.
"Wir legen bewusst immer neue Handlungsstränge rund um Goethe. Mal geht’s um seine Frauen, mal um andere Blicke auf den 'Faust' und dann gerne um andere Autorinnen und Autoren, auf denen er sich bezog oder umgekehrt. Aber in einer solchen Gemeinschaft darf das Gesellige auch nicht zu kurz kommen", meint Leuser und verweist auf Exkursionen wie beispielsweise nach Lübeck, wo man sich einmal zur gemeinsamen Mahlzeit wie in den "Buddenbrooks" traf.
Daher steht im Oktober auch eine mehrtägige Fahrt nach Wetzlar an, wo der "Werther" spielt. In dem Roman verliebt sich dieser in eine bereits verlobte Frau namens Lotte. Weil sie nicht zusammen sein können, wird der junge Rechtspraktikant immer hoffnungsloser und nimmt sich am Ende das Leben. Ein Plot, der von einer realen Begebenheit rund um Goethes Freund Carl Wilhelm Jerusalem inspiriert ist, der eine verheiratete Frau liebte und sich aus Verzweiflung ob der Unerreichbarkeit das Leben nahm.
Die Wirkung des Romans war nach seinem Erscheinen nahezu monströs: Einerseits verschaffte er Goethe schlagartig Bekanntheit. Andererseits löste er eine Welle von Suiziden aus, die immer noch in der Sozialwissenschaft kontrovers diskutiert wird, obwohl es nachweislich Fälle von Selbsttötungen gegeben hat, bei denen das Buch eine Rolle spielte.
"Werther" auch heute noch relevant
Für Claudia Leuser ist der "Werther" aber über des zentrale Motiv des Suizids hinaus ein damals wie heute gesellschaftlich relevantes Buch. "Werther zerbricht an der inneren Spannung, anderen zu gefallen, gleichsam aber er selbst zu sein. In Zeiten, in denen junge Menschen beispielsweise über TikTok und Instagram versuchen, zu ihrer Individualität zu finden, ein hochaktuelles Thema", erklärt sie. Ebenso schon zur Zeit der Veröffentlichung, die von einer literaturwissenschaftlich als "Aufklärung" bezeichneten Epoche geprägt war. "Was macht den Menschen zum Menschen?" sei damals eine heiß diskutierte Frage gewesen, mit der an der bisherigen Weisheit, der Mensch sei im Grunde ein Ebenbild Gottes, gerüttelt habe. "Goethes Roman war damals das Zündkraut, das eine Explosion auslöste – literarisch wie in der öffentlichen Wahrnehmung", versucht Leuser einzuordnen.
Die mittelhessische Stadt Wetzlar jedenfalls hat zahlreiche Veranstaltungen anlässlich des Jubiläums wie eine Neuinterpretationen des "Werther" in Comic, Graphic Novel oder Manga, eine Ausstellung, einen True-Crime-Audio-Walk und eine Stadtführung mit Lotte, Goethe oder einem Geisterbeschwörer auf dem Plan. Claudia Leuser rechnet mit rund 30 Teilnehmern der "Werther"-Reise – der "harte Kern", der sich immer wieder die Zeit nimmt. Und hofft darauf, dass ihre Gesellschaft wieder mehr neue Mitglieder erreicht – "gerne auch schon vor der Rente."
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