In meiner Berufsbiographie als Pfarrer stand ich zahllose Male vor demselben theologischen Problem. Ich wollte in der Bibel einen Psalm für einen Gottesdienst heraussuchen und stieß dabei ständig auf unschöne Stellen. Auf sehr unschöne Stellen, um genau zu sein. Denn in fast jedem Psalm geht es den Gottlosen in irgendeinem Vers verbal an den Kragen.

Es soll Feuer und Schwefel über sie regnen. Sie sollen zu den Toten fahren. Gott soll mit dem Bogen auf ihr Antlitz zielen. Und so weiter. Und so fort.

Was macht der psychologisch sensible, humanitär und christologisch geläuterte, nur noch von Gottes Liebe wissen wollende Theologie in so einer Situation?

Nun, er macht, was auch diejenigen gemacht haben, ehe sie vor dreißig Jahren das aktuelle bayerische Gesangbuch das Licht der Welt erblicken ließen. Er entscheidet sich für eine gesellschaftsverträgliche und gewissermaßen jugendfreie, von Anstößigkeiten und Empörungstriggern weitgehend befreite Selektion.

Er wählt erbauliche Verse und erhebende Psalmen aus und überlässt die anderen zwischen den Buchdeckeln der Bibel ihrem Schicksal. Mögen sie dort verschimmeln, bis sich in welcher Zukunft auch immer einige moraltheologische Reinigungskräfte versammeln, um der Öffentlichkeit eine gewaltfreie Heilige Schrift zu präsentieren, die niemandem mehr unangenehm zu nahe tritt.

Eine gekürzte Heilige Schrift?

Wie viele Seiten diese Bibel­ausgabe umfasst, wird sich zeigen, wenn es dereinst soweit sein sollte. Ich nehme an, dass sie dünner sein dürfte als das dünnste Smartphone der Gegenwart. Und man täusche sich nicht und mache sich keine Illusionen!

Es wird nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament einiges verbale Unkraut zu vernichten geben. Jesu geradezu pubertäre Verfluchung des Feigenbaums in Markus 11 dürfte dabei noch zu den harmlosesten Stellen gehören. Wobei auch sie in einer Zeit der Biosensibilität natürlich keine Kleinigkeit ist.

Aber jetzt im Ernst.

Wie sollen es Christenmenschen mit den Verwünschungen und Verfluchungen in der Bibel halten?

Wie sollen sie es mit Texten halten, die Gott als unheilvollen, gewalttätigen und vernichtenden Gott zur Sprache bringen? Wie sollen sie es mit einem Kapitel wie 5. Mose 28 halten, das man nur als Horrorkabinett des göttlichen Brutalismus bezeichnen kann? Oder advocatusdiabolimäßig und frömmigkeitspsychohygienisch gefragt:

Wohin mit den negativen Gefühlen im Blick auf menschen- und gottesverachtende Individuen und Kollektive, die uns und Anderen das Leben zur Hölle machen?

Wohin mit unfeinen Gefühlen?

Sollen wir sie uns religiös verkneifen und in uns hineinfressen, bis wir Magengeschwüre bekommen? Wäre es nicht gesünder und heilsamer, liturgische Räume für die Artikulation von Wut und Aggression zu eröffnen – und sei es in der Gebetsstille? Wo, wenn nicht unter dem Kreuz, sollen wir uns auskotzen, unfein gesprochen? Wer, wenn nicht der Gekreuzigte, könnte unsere unfeinen Gefühle aushalten?

Ich habe vor einigen Wochen in einem Roman des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Saul Bellow einen schönen Satz gefunden.

"A thought-murder a day keeps the psychiatrist away." Zu deutsch etwa: "Täglich ein Mord in Gedanken hält dir den Psy­ch­iater vom Leib."

Lange habe ich mich nicht getraut, dieses Zitat auf meinem Instagram-Account zu posten. Wer weiß: Vielleicht könnte ein solcher Satz in moralisch hypernervösen, denunziationsbereiten Zeiten als Aufforderung zu einer Straftat fehlinterpretiert werden. Und wer weiß: Vielleicht würde mir seine Veröffentlichung zwar den Psychiater, aber nicht die Polizei oder andere Disziplinierungsinstanzen vom Leib halten?

Moralische Empörung

Irgendwann habe ich mich dann doch entschlossen, das Bellowzitat zu posten. Zuerst in einem kleinen Denkanstoßvideo, in dem ich mich mit der Frage herumschlage, ob es eigentlich gut oder ob es eigentlich ungut ist, dass in der Kirche nur noch gesegnet wird und dass die Verfluchung als Gottes Mittel der Chaosbekämpfung aus dem christ­lichen Bewusstsein verschwunden ist.

Ich finde, dass das eine verflucht schwierige Frage ist, der man gar nicht so einfach Herr werden kann, schon gar nicht moralisch. Moralische Empörung könnte ja die aufgeklärte Fortsetzung der archaischeren Verfluchung mit anderen Mitteln sein.

Und ich finde außerdem, dass die Beantwortung der Frage, ob es denkbar und glaubbar ist, dass Gott nicht nur als positive, sondern auch als negative Wirklichkeit in Erscheinung tritt, zu einem reflektierten Glauben gehört. Man könnte auch anders fragen:

Wie halten wir es als Christen mit der Gottesfurcht?

Dass der Glaube an der Möglichkeit eines nicht nur allmächtigen, sondern auch grausamen Gottes zerbrechen kann, gehört quasi als Sollbruchstelle zu ihm. Die sogenannte Theodizeefrage ist der brutalste Gotteskiller von allen. Und nicht von ungefähr haben andere Killer – Killer im Namen Gottes – nach 9/11 eine religionskritische Debatte darüber ausgelöst, ob Religion nicht besser aus einer humanen Zivilisation eliminiert werden sollte, weil insbesondere der Monotheismus wesensmäßig mit Intoleranz und Gewalt liiert sei.

Gewaltfreie moralische Kommunikation

Es war der Vorschlag zu hören, an die Stelle gewaltgesättigter religiöser Kommunikation gewaltfreie moralische Kommunikation treten zu lassen. Dieser Vorschlag ist natürlich blauäugig. Gewalt wird es auch dann noch geben, wenn es keine Religion mehr gibt. Und moralische Kommunikation trägt ihrerseits gewalttätige Züge, weil sie nicht nur mit Achtung, sondern auch mit Ächtung, also mit Akten des Ausschlusses aus Diskursgemeinschaften einhergeht.

Aber egal. Der große schwarze Elefant steht im Raum. Und auf ihm ist in großen blutroten Buchstaben der Satz geschrieben, den Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus jeder seiner Auslegungen jedes der Zehn Gebote vorangestellt hat.

"Wir sollen Gott fürchten und lieben."

Fürchten wir Gott? Sollen wir ihn fürchten? Wie gehen wir mit dem Elefanten um? Viele theologische Tierpflegerinnen und Tierpfleger der aufgeklärten Moderne versuchen immer wieder, mit mehr oder weniger scharfen Reinigungsmitteln die beiden Worte "fürchten und" von der dicken Haut des Dickhäuters zu entfernen.

Ist Gott nur zu lieben?

Gott, so sagen sie, sei nicht zu fürchten, sondern nur zu lieben. Denn er ist die Macht der Liebe. Und wenn er gegen den altbösen Feind eine Waffe zückt, dann die Waffe allesbesiegender Liebe. Hat nicht Christus selbst dies durch seinen Liebestod am Kreuz und durch seine Verkündigung der Gewalt­losigkeit und der Feindesliebe vor Augen geführt?

Ich weiß nicht genau, ob und wie sehr Elefanten zu Aggression neigen. Aber ich weiß, dass es unermüdliche theologische Versuche gibt, den Elefanten zum possierlichen Stofftier zu verkleiden. Zu einem pinken Plüsch­elefanten, in den in Gold die Worte eingestickt sind: "Ich bin ein ganz Lieber. Und ihr seid bitte auch ganz lieb." Und ich weiß auch, dass der große schwarze Elefant sich das nicht gefallen lassen wird.

Er wird die Verkleidung abschütteln und weiterhin stoisch, unerbittlich und schwarz mit seiner dunkelroten Botschaft im Raum stehen. "Wir sollen Gott fürchten und lieben." Und ich weiß noch etwas oder ahne es zumindest. Ob wir Gott fürchten, ist der Lackmustest, wie es um unseren Glauben bestellt ist.

Ehrfurcht vor Gott

Wenn wir Gott nicht mehr zutrauen, dass er ein wirkmächtiger Akteur ist, der das Böse und das Chaos vernichtet und auch die Macht hätte, uns zu vernichten, wenn er es wollte, dann würden wir nicht mehr über Gott reden, wenn wir über Gott reden. Wenn uns die Ehrfurcht vor Gott abhanden käme, würden wir den Respekt vor Gott verlieren und allenfalls einer verklärten Menschlichkeit Respekt zollen.

Ich bin fern davon, der evangelischen Kirche die Rückkehr zur "schwarzen Pädagogik" zu empfehlen. Nach dem Motto: "Wenn die Leute wie­der Angst vor Gott haben, dann bleiben sie vielleicht in der Kirche." Seit der Reformation sind die Zeiten der Kirchenfurchteinflößung im Namen Gottes protestantischerseits gottseidank vorbei.

Wunsch- und Wohlfühlreligion?

Und mag auch die Angst gegenwärtig das Geschäft moralistischer und amoralistischer politischer Apokalyptikerinnen und Apokalyptiker sein. Meines ist sie nicht. Ich will nur die Beobachtung äußern, dass die Spiritualitätskonfigura­tionsprogramme unserer Gegenwart keinen Button "Gottesfurcht" zum Anklicken mehr enthalten, weil das nicht zur Wunsch- und Wohlfühlreligiosität unserer Zeit passt.

Und zwar deshalb nicht, weil dieser Zeit die Vorstellung immer ferner rückt, dass nicht wir es sind, die sich unseren persönlich passgenauen Gott konfigurieren, sondern dass Gott es ist, der uns ergreift und vielleicht sogar überwältigt.

Jakob und Gott

So, wie den Erzvater Jakob in Genesis 32. Was dieser nächtens am Fluss Jabbok erlebt, könnte ein Beispiel dafür sein, dass es zu leicht wäre, es sich mit Gott zu leicht machen zu wollen. Es könnte auch ein Beispiel dafür sein, dass man die Glaubenden nicht zuletzt daran erkennt, dass sie von Gott und mit Gott geschlagen sind. Vielleicht stimmt es ja tatsächlich, was der Verfasser des Hebräerbriefs im 6. Vers des 12. Kapitel schreibt und wovor unsere gottesgewaltpräventive und gottesfurchtlose theologische Zeit zurückzuckt wie der Teufel vor dem Weihwasser.

"Wen der Herr liebhat, den züchtigt er."

Jakob will einfach in Ruhe seiner theologischen Wege gehen, als sich Gott ihm unverse­hens und unheimlicher denn je in den Weg stellt und an ihm rüttelt und reißt. Jakob ringt mit Gott. Und es ist kein Kuschelgott, sondern ein fürchterlicher, unangenehmer und ungeheuerlicher Gott, mit dem er aneinandergerät. Jakob ringt mit Gott. Und Gott ringt mit Jakob. Gott lässt Jakob nicht unversehrt. Und Jakob Gott nicht.

Das Ringen mit Gott

Jakob muss ebenso wie Hiob und ebenso wie der gekreuzigte Christus lernen, dass kein Weg zu sich selbst und kein Weg zu Gott an diesem Ringen mit Gott vorbeiführt und dass man eigentlich bis an die Zähne bewaffnet sein muss, wenn man in sich geht und wenn man sich zur Begegnung mit Gott rüstet. Schön wäre es, wenn es anders wäre. Aber wenn es anders wäre, wäre es vielleicht weder eine echte Begegnung mit sich selbst noch mit Gott. Der christliche Glaube ist – nun ja – kein Lunapark und kein Oktoberfest.

Und so scheint es dabei zu bleiben, dass jede christliche Frömmigkeit und jede christliche Theologie, die ihren Namen verdienen, verwegen und zugleich gottesfürchtig den Kampf mit sich und der Welt und mit Gott aufnehmen müssen und nur hinkend daraus hervorgehen können. Hinkend, aber mit der hart erkämpften Beute der verflucht teuren Gnade des göttlichen Segens. Und am Ende sogar beglänzt vom Licht der Morgenröte.

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