"Und wenn ich nicht davor zurückschreckte, in die Öffentlichkeit zu treten, vor der ich zum ersten Male spreche, so geschieht es, weil auch ich es vor meinem Gewissen nicht verantworten könnte, wenn ich auch nur eine einzige Möglichkeit unbenützt ließe, in diesem Sinne wirksam zu sein."

Die Frau, die so voller Nachdruck am 15. Januar 1915 vor der Literarischen Gesellschaft in Dresden spricht, heißt Annette Kolb. Während seit über fünf Monaten der Erste Weltkrieg tobt, hält Kolb eine Rede für den Frieden. Sie wirbt für die pazifistische Zeitschrift "Internationale Rundschau", an deren Gründung sie beteiligt ist und die aus der neutralen Schweiz den "Lügen" der nationalen Medien entgegenwirken soll. Der Vortrag endet im Tumult, Kolb muss die Bühne verlassen.

Aufgewachsen in München

Annette Kolb, zum Zeitpunkt der Rede 44 Jahre alt, ist Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Und sie ist Deutsch-Französin – am 3. Februar 1870 in München geboren als Tochter des bayerischen Gartenarchitekten Max Kolb und der Pariser Pianistin Sophie Kolb Danvin. Wenige Monate nach ihrer Geburt bricht der Deutsch-Französische Krieg aus, der 1871 mit einem Sieg Deutschlands und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches endet.  

Annette Kolb wächst zweisprachig in München auf und knüpft im literarisch-musikalischen Salon der Mutter Kontakte zu international tätigen Künstlern, Literaten und Politikern. Ende der 1890er Jahre beginnt sie erste Feuilletonartikel zu schreiben, die ihr anfangs jedoch noch häufig von den Zeitungen zurückgeschickt werden. Sie schreibt über Musikthemen, aber auch über die kulturellen und mentalen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, vor allem anhand von Reiseimpressionen. Schon früh versucht sie, über die Vermittlung von Kenntnissen eine Brücke zwischen diesen beiden Ländern zu schlagen. Die Sammlung dieser frühen Artikel erscheint 1906 unter dem Titel "L'âme aux deux patries. Sieben Studien".

Romandebüt mit 43

Für ihr Romandebüt "Das Exemplar" erhält sie 1913 den Fontanepreis und große öffentliche Anerkennung. Sie tauscht sich in Briefen mit zahlreichen bedeutenden Zeitgenossen aus, etwa mit Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse und René Schickele oder Thomas, Erika und Klaus Mann. 1800 Briefe aus ihrem Nachlass befinden sich im Münchner Literaturarchiv in der Monacensia im Hildebrandhaus. Dort werden auch über 150 Manuskripte und umfangreiche biografische Dokumente, wie Fotografien, Porträtzeichnungen und Büsten von Annette Kolb aufbewahrt.

Annette Kolb entspricht in vielem nicht den damaligen Rollenerwartungen an eine Frau. Sie kleidet sich extravagant, trägt auffallende Hüte, raucht Zigaretten. Und sie bleibt ihr Leben lang unverheiratet – nur so, schien es ihr, konnte sie ihre schriftstellerische und journalistische Arbeit unabhängig entfalten.

Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich

Geprägt von ihrer eigenen Familiengeschichte wird die Vermittlung zwischen der deutschen und der französischen Kultur und das Engagement für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich zu ihrem Lebensthema. "Annette Kolb war eine überzeugte Patriotin – und zwar sowohl für Deutschland als auch für Frankreich", sagt Anke Buettner, Leiterin der Monacensia. "Gleichzeitig war sie auch eine flammende Pazifistin."

Kolb empfindet den Einfluss der beiden Kulturen zwar als bereichernd, fühlt aber durch die zunehmend angespannte politische Lage zwischen den beiden Nachbarländern und spätestens zu Beginn des Ersten Weltkriegs auch eine innere Zerrissenheit. 
In ihrer Dresdner Rede 1915 beschreibt sie diesen Zustand so: 

"Denn wir (die Deutsch-Franzosen, Anm. d.Red.) stehen mitten auf einem Laufbrett über dem Graben, der sich seit vierundvierzig Jahren so sehr erweitert hat, daß wir allein, von unseren weit hinausgestellten Posten aus, zwei Lager übersehen können, die sich gänzlich aus den Augen verloren haben. Unsere Einsamkeit ist dort eine so verzweifelte geworden…"

Und weiter:
"Nicht um ein Minus handelt es sich bei uns, sondern in den Zusätzen liegen unsere Konflikte. Wir sind heute die anderen: Halbdeutsche oder Halbfranzosen, wie Sie wollen, aber keine Deutschen wie Sie, keine Franzosen wie die drüben; von einer doppelten Liebe beseelt (…). (…) wir sahen in ein gelobtes Land, nur, um es doppelt zu verlieren."

Wegen ihrer Äußerungen gegen den Krieg und für eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland wird sie vom Bayerischen Kriegsministerium mit einer Briefsperre und einem Ausreiseverbot belegt und flieht 1917 ins Exil in die Schweiz. An ihrer pazifistischen Haltung ändert das jedoch nichts: "Wenn auch kein einziger mir seine Zustimmung gäbe, es beirrte mich nicht; so stark ist der Ruf", schreibt sie in den 1917 veröffentlichten "Briefen einer Deutsch-Französin".

Nach dem Ersten Weltkrieg kehrt Kolb wieder nach Deutschland zurück und arbeitet weiter als Journalistin und Autorin. Sie reist viel und pflegt auch viele freundschaftliche Beziehungen über Ländergrenzen hinweg. In ihren Artikeln und Büchern, aber auch auf Kongressen setzt sie sich für die Friedensbewegung ein. "Sie war eine Weltbürgerin", sagt Buettner. Gegen große Widerstände, Angriffe gegen ihre Person und auch während des Exils habe Annette Kolb immer versucht, sehr integer zu sein und sich nicht vereinnahmen zu lassen von Hass und Hetze.

Entfremdung von Deutschland und Exil in den USA

Wenige Tage nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 geht sie erneut ins Exil – zunächst nach Frankreich und dann über die Schweiz, Spanien und Portugal in die USA. "O, ich hätte eine so kategorische Entfremdung von Deutschland nicht für möglich gehalten", schreibt sie 1934 in einem Brief an ihren Freund René Schickele. "Es war keine schmerzhafte Trennung, aber es ist ein endgültiger Bruch, ein Nichtdazugehören bis ins Tiefste." 1936 erhält sie den französischen Pass. 

Nach dem Krieg kehrt sie nach Europa zurück, lebt in Paris, in Irland und in der Schweiz. In ihre Heimatstadt München zieht sie erst wieder 1961, mit 91 Jahren. In Deutschland und Frankreich wird sie mit zahlreichen Auszeichnungen für ihr Engagement für Frieden und Versöhnung geehrt: Sie erhält unter anderem das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, den Orden "Pour le mérite" und den Bayerischen Verdienstorden. In Frankreich wird sie zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt. Im Dezember 1967 stirbt sie, mit 97 Jahren, in München und wird auf dem Friedhof in Bogenhausen beerdigt. 

Nach ihrem Tod gerät Annette Kolb mehr und mehr in Vergessenheit

"In den letzten Jahrzehnten war Annette Kolb nur noch einer kleinen Gemeinde von Wissenschaftler*innen und älteren Literaturkenner*innen bekannt", schreibt Monacensia-Leiterin Buettner 2020 in einem Artikel in der Fachzeitschrift Bibliotheksforum Bayern. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein großer Einschnitt sei die Zeit des Nationalsozialismus gewesen, sagt Buettner im Interview. "Die Nationalsozialist*innen haben sehr konsequent nicht nur Menschen umgebracht, sondern auch alles, was an ihnen ‚unliebsame‘ Personen erinnert hat." Viele Frauen, Jüdinnen, Feministinnen seien dadurch in Vergessenheit geraten.

Um diese "eklatanten Lücken" im literarischen Gedächtnis der Stadt München und des ganzen Landes zu schließen, setzt das Literaturarchiv der Monacensia, das den Nachlass von Annette Kolb bewahrt, auf ein partizipatives, offenes Wissenskonzept, erklärt Buettner. Unter dem Stichwort #femaleheritage arbeitet die Einrichtung mit ganz unterschiedlichen Partnern aus Kultur, Bildung und Wissenschaft zusammen, etwa mit den Münchner Kammerspielen. Im April 2023 organisierten Monacensia und Kammerspiele das Festival "Female Peace Palace. Theater und Widerstand in Zeiten des Krieges" über Mut, Visionen und Kämpfe von Frauen in Krieg und Widerstand. Das gerade erschienene Lesebuch "Female Peace Palace. Schreiben, Widerstand und Pazifismus im Krieg" dokumentiert das Festival. Annette Kolb ist darin ein umfangreiches Kapitel gewidmet.

Gerade jetzt muss man über Frieden sprechen

Auch wenn Kolb mit einigen ihrer Überzeugungen, etwa, dass auch ein König an der Spitze des Staates stehen könnte, nicht mehr in die heutige Zeit passe und ihre Texte teilweise etwas "sperrig" zu lesen seien, habe sie Denkansätze geliefert, die auch heute Impulse sein könnten, um über eine solidarische Gesellschaft ohne Gewalt nachzudenken - und andere Lösungen zu finden, sagt Buettner. "Es ist so wichtig, dass man sich gerade jetzt mit Frieden beschäftigt, darüber, wie ein Reden über Frieden überhaupt möglich ist, in dieser Zeit der Gewalt und Kriegsrhetorik." 

Der Exilverleger Gottfried Bermann Fischer, in dessen Verlag mehrere Werke von Annette Kolb erschienen, schreibt 1967 in seinen Erinnerungen über die pazifistische Schriftstellerin: "Wer ihr nicht begegnet ist, hat die Bekanntschaft mit einer der wahrhaft großen Persönlichkeiten unserer Zeit versäumt. Sie ragt wie ein Monument aus der Wirrnis der Zeiten."

Literatur und Linktipps

Quellen und weiterführende Links zu Annette Kolb

Annette Kolb, Briefe einer Deutsch-Französin, online abrufbar

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