Religionen sind nach den Erkenntnissen einer neuen Studie weltweit auf dem Rückzug. Das gilt nicht nur für Europa und die USA, sondern auch für muslimisch geprägte Staaten in Nordafrika sowie die Türkei und den Iran, erklärte der Religionssoziologe Detlef Pollack vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster.
- Der Glaube an ein Jenseits, an Gott und an die Wirksamkeit religiöser Rituale sei für viele nicht mehr plausibel.
- Der Bedeutungsverlust der Religionen betrifft demnach nicht nur die Regionen Westeuropas, sondern auch bisherige religiöse Hochburgen wie Polen und die USA sowie Südkorea und Japan.
Das sagte Pollack, der einer der Autoren einer erweiterten und überarbeiteten Neuauflage des Standardwerks "Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich" ist.
In Nordafrika, Iran und Türkei ist Religiösität auf dem Rückzug
Das gelte auch für muslimisch geprägte Staaten in Nordafrika sowie die Türkei und den Iran. Die Religionssoziologie beobachte seit Jahrzehnten Rückgänge in der Bindung an Religion und Kirche in Westeuropa und dabei auch in Westdeutschland, erklärte der Religionssoziologe.
Die dramatischen Abbrüche auf dem weltweiten religiösen Feld in den vergangenen Jahren, seien "allerdings selbst für einen Säkularisierungstheoretiker wie mich überraschend gekommen".
- So sei der Anteil der Konfessionslosen in den USA, der sich im 20. Jahrhundert noch im einstelligen Prozentbereich bewegt habe, auf knapp ein Drittel gestiegen, erläuterte der Religionswissenschaftler.
- In Polen, das sich zuvor durch "eine beachtliche religiöse Stabilität" ausgezeichnet habe, seien allein zwischen 2015 und 2021 die wöchentlichen Gottesdienstbesuche um zehn Prozentpunkte zurückgegangen.
- Unter den mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern steche besonders die Säkularisierung im Iran hervor, hieß es. Einer Online-Befragung zufolge würden sich entgegen offiziellen Zahlen lediglich etwa 40 Prozent der Iranerinnen und Iraner als muslimisch sehen, erklärte Pollack.
Etwa 22 Prozent hätten angegeben, keiner Religion anzugehören, etwa neun Prozent seien der Umfrage zufolge Atheisten. Offizielle Zahlen würden hingegen suggerieren, dass mehr als 99 Prozent der Iranerinnen und Iraner muslimisch seien.
Die Wissenschaftler erklärten den Bedeutungsverlust von Religion durch ein wachsendes Wohlstandsniveau, Demokratisierung, Ausbau des Sozialstaats sowie Individualisierung und kulturelle Pluralisierung.
"Die Bedingungen, unter denen sich religiöse Sinnsysteme zu bewähren haben, haben sich so grundsätzlich verändert, dass der Glaube an ein Jenseits, an Gott, an die Wirksamkeit religiöser Rituale und die Heilskraft religiöser Institution für viele nicht mehr plausibel ist."
Die Forscher hätten weltweit eine zunehmende Abkehr vom Glauben an einen personalisierten Gott festgestellt. In den meisten westeuropäischen Ländern habe sich die Mehrheit der Gläubigen vom Glauben an einen persönlichen Gott, wie ihn die Bibel verkündigt, abgewandt. Sie glaube heute nur noch an eine höhere Macht, deren Wirken nicht direkt erfahrbar sei.
Religiöse Bindungen gehen zurück
Je mehr Verwirklichungsmöglichkeiten es in Beruf und Freizeit gebe, umso mehr verschiebe sich zudem die Aufmerksamkeit von religiösen zu säkularen Praktiken. In den vergangenen 20 Jahren sei zwar die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Religion und religiös aufgeladene politische Konflikte gestiegen, erklärte Pollack.
Der Rückgang religiöser Bindungen in vielen Regionen der Welt sei aber unübersehbar. Es sei nicht zu bestreiten, dass der Bedeutungsrückgang von Religion und Kirchen mit Prozessen der Modernisierung im Zusammenhang stehe.
(epd/om)
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So überraschend ist das…
So überraschend ist das eigentlich nicht. Die brutalen Regime in Nahost, die sich über die Religion definieren haben gerade in Ländern mit eher toleranter Tradition Persien/Türkei ein Legitimationsproblem und das ist schon länger bekannt. Auch in Osteuropa stellt sich manche Kirche gerne in Dienst revisionistischer, antiliberaler Politiker, während die Gesellschaft starken westlichen Einflüssen unterliegt. Eine Warnung auch an unsere Kirchen sich tagespolitisch nicht zu sehr auf eine Sichtweise insbesondere, wenn sie die gesellschaftlich erwünschte ist, festzulegen, selbst wenn sie tatsächlich oder vermeintlich humanistischen Idealen folgt. Mit selbst verliehener Autorität und Zwang gewinnt man keinen Blumentopf. Das ist ein Dilemma, denn Kirche lebt ja von einer gewissen Verbindlichkeit, von Ritualen und einem Lehrgebäude. Völlige Beliebigkeit kann es auch nicht sein. Trotzdem sind zu vielen Menschen die Anknüpfungspunkte ziemlich verloren gegangen. Weihnachtsbusiness oder die Taufe der Großcousine sind nicht unbedingt eine gute Möglichkeit sich den eigenen inneren Fragen und Bedürfnissen zu öffnen und medial bleiben Mißbrauchsskandal, Abtreibungsstreit und Kirchensteuer - nicht gerade einladend. Umso schöner, wenn Leute sagen, sie seien seit 40 Jahren erstmals wieder in die Kirche gekommen und sie sind nachher nicht unglücklich.