"Setzen Sie sich schon mal ins Arztzimmer", sagt die Chefsekretärin. "Der Professor kommt gleich. Es kann aber ein wenig dauern." Klammer auf: Ich habe mir angewöhnt, zwei Sätzen in medizinischen Kontexten keinen Glauben mehr zu schenken. Der erste lautet: "Jetzt wird es gleich ein klitzekleinwenig unangenehm. Aber keine Angst: Es tut nicht weh." Der zweite: "Der Doktor ist in einer Minute bei Ihnen." Daher richte ich mich nach dem "Es kann aber ein wenig dauern" auf ungefähr eine Stunde Wartezeit ein. Klammer zu.

Da sitze ich also. Vor mir steht der Schreibtisch eines Mannes, von dem ich weiß dass er die ultimative Koryphäe auf seinem Fachgebiet ist. Der Stuhl hinter dem Schreibtisch ist leer. Gleich (oder in einer Stunde, wie gesagt) wird sich jemand, dem mein bedingungsloses Vertrauen gilt, auf diesen Stuhl setzen.

Nebenbei bemerkt: Als Hypochonder bin ich jemand, der in Arztkreisen als ultimativer Koryphäenkiller gilt, weil ich immer etwas finde, an dem mein mit Skepsis gepaartes Halbwissen zweifeln kann. Aber an dem, der gleich (oder besser gesagt: in wahrscheinlich einer Stunde) kommt, zweifle ich nicht, weil ich nicht nur ein Koryphäenkiller, sondern auch immer auf der Suche nach der wirklich letzten Instanz bin.

Warten, warten, warten

Ich sitze und schaue auf den leeren Stuhl im Herzen der großen Klinik. Und mit einem Mal durchflutet ein Gefühl der Erleichterung und der unfassbaren Privilegiertheit meinen Körper. "Das hier ist der sicherste Ort der Welt", denke ich. "Hier kann mir nichts passieren. Wenn ich jetzt gleich kollabiere, wird man mich in wenigen Sekunden reanimieren. Es sei denn, man hat mich vergessen, oder es kommt tatsächlich erst in einer Stunde jemand, der dann nur noch meinen Tod feststellen kann."

Es klopft. Die Chefsekretärin steckt den Kopf durch die Tür. "War er schon da?" – "Nein", sage ich. "Noch nicht." – "Ich rufe ihn nochmal an", sagt sie. "Vielleicht ist er noch am Tisch." Klammer auf: Höhergestellte Normalsterbliche sind zu Tisch, wenn sie Mittagspause machen und in der Mensa irgendetwas Geschmackloses in sich hineinstopfen. Die operierenden Götter in Weiß dagegen sind am Tisch, wo sie in Leiber schneiden wie besagte Normalsterbliche in ihr Schnitzel. Ich selbst befinde mich übrigens augenblicklich auch am Tisch. Aber leider nicht, um Leben zu retten, sondern um diese Kolumne in meinen Rechner zu hacken.

"Neinnein!", sage ich eilig und wehre ihre Idee mit beiden Händen ab. "Nicht nötig. Alles gut. Kein Stress! Nur die Ruhe. Ich habe alle Zeit der Welt." – "Okay", sagt sie lächelnd und wahrscheinlich ziemlich beeindruckt von einem so souveränen und tiefenentspannten Patienten. Sie schließt wieder die Tür.

Ich bin übrigens der ungeduldigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Unlängst sagte eine andere Koryphäe im Blick auf die prognostische Entwicklung meiner Symptomatik zu mir: "Wait and see!" Selten hat mich etwas so an den Rand der Verzweiflung gebracht wie diese Aussage der Ärztin meines Vertrauens. Ja, ich weiß. Man muss im Leben manchmal auch warten können. Auf meinem Schreibtisch steht eine Postkarte mit dem Kalenderspruch "Du kannst noch so sehr an der Olive zupfen. Sie wird nicht früher reif." Jeden Tag lese ich mehrmals diese Lebensweisheit. Aber insgeheim denke ich mir: "Dann esse ich eben etwas Anderes als diese Olive. Hauptsache, ich bekomme es sofort."

Das erfüllteste Warten meines Lebens

Seltsamerweise warte ich diesmal aber gern und werde vor Entspannung beinahe schläfrig. "Gleich kommt er", denke ich mir. Ich spüre, dass er mich beruhigen und dass mir daraufhin ein Stein vom Herzen fallen wird, weil alles in bester Ordnung ist. Und weil ich das spüre, würde ich gerne endlos hier sitzen und den leeren Stuhl hinter dem Schreibtisch vor mir meditieren. Es ist wie Urlaub, nur ohne Strand und Berge, Wein, Cocktails und Bier. Das erfüllteste Warten meines Lebens. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass ich am See dort oben in Sils-Maria sitze, wo Nietzsche saß, als er schrieb:

"Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts, / Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts / Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, / Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. / Da plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra ging an mir vorbei."

Zarathustra, die Offenbarung des Übermenschen, des Gottes der Erde. Wahrscheinlich trug Nietzsches Zarathustra keinen weißen Kittel. Jedenfalls kann ich ihn mir nicht im weißen Kittel unter den Klängen von Richard Strauss die Weltbühne betretend vorstellen.

Ich sitze, als Eins zu Zwei wird und mir ein Gedanke in den Kopf schießt. Wie wäre es, wenn ich jetzt tatsächlich im Arztzimmer Gottes sitzen würde? Wie wäre es, wenn es endlich soweit wäre, dass ich nicht irgendeinem irdischen Arzt, sondern IHM selbst begegnen würde? IHM, dem Heiland der Welt? IHM, auf den ich warte, seit ich denken kann? Wie wäre es, wenn mir tatsächlich vergönnt wäre, was im Blick auf die letzten Dinge, weil vor Gott ja doch alle gleich sind, nicht einmal theologischen Privatpatienten vergönnt ist? Wie wäre es, wenn ich in wenigen Minuten einen Date mit der wirklich letzten Instanz, nämlich mit IHM selbst hätte?

Der Gedanke macht mich nervös. Mein Herz stolpert vor Aufregung. Vielleicht hüpft es auch vor Vorfreude. Und doch fürchte ich, ja bin mir fast sicher, dass ER nur ein paar Minuten Zeit für mich haben wird. Denn wir beide sind schließlich nicht allein auf der Welt. Er wird schnell wieder weiter müssen und weiß Gott Wichtigeres zu tun haben, als sich mit mir schwierigem und zickigem theologischen Patienten zu beschäftigen. Ich sollte mir also gut und zwar sehr gut überlegen, was ich ihn fragen möchte. Vielleicht ist mir nur eine einzige Frage vergönnt. "Scheiße", denke ich, weil es ja sein kann, dass die Tür jeden Moment aufgeht und ich noch nicht wirklich bereit bin. "Was frage ich ihn nur?" Ich raufe mir die Haare, also die Kopfhaut. "Was frage ich ihn nur?" Was das Ganze soll, könnte ich ihn fragen. Oder wann er sich endlich blicken lässt. Aber das wäre natürlich lächerlich, weil er mir dann ja schon gegenübersitzen würde auf dem Stuhl, der seit Jahrtausenden leer ist, ohne dass irgendeine Chefsekretärin sich blicken ließe und auf SEIN Kommen vertrösten würde. Aber vielleicht ist ja die Kirche diese Chefsekretärin. Wobei ich mich frage, ob sie womöglich nur so tut (oder nicht einmal mehr so tut), als gäbe es den Chef. Dann würde das Ganze einfach so weitergehen, bis irgendwann alles im Sande verläuft. "So, wie heute hier in diesem Klinikum", denke ich plötzlich. Vielleicht geht ja die Tür zum Arztzimmer, in dem ich warte, erst kurz vor Feierabend das nächste Mal auf. Und vielleicht sagt mir die Chefsekretärin dann: "Tut mir leid. Heute klappt es nicht mehr. Aber Sie können gerne morgen wiederkommen und sich etwas zu Lesen mitbringen." Vielleicht Beckett oder Kafka.

Was könnte ich IHN fragen?

Was könnte ich ihn nur fragen? Ich, der in all den fast vierzig Jahren meiner theologischen Existenz nie um eine bohrende, skeptische und kritische Frage verlegen war. Ich, der Koryphäenkiller. Was könnte ich ihn nur fragen? Ich könnte ihn fragen, wie das Ganze ausgeht. "Nein", denke ich mir. "Ich frage ihn, warum ER das Ganze so und nicht anders konstruiert hat." Natürlich könnte ich ihn auch fragen, ob wirklich ER es konstruiert hat oder ob vielleicht doch jemand Anderes dahintersteckt, dessen Irrsinn ER und wir jetzt ausbaden müssen. Aber vielleicht wäre es unhöflich, ihn nicht für den alleinigen Chef der Klinik Welt zu halten. "Was frage ich ihn nur?"

Die Tür geht auf. Er betritt lächelnd den Raum. Ich denke noch: "Er sieht aus wie eine Mischung aus Ian McKellen und Sean Connery, also so, wie ich IHN mir immer vorgestellt habe", als ER mir das Wort aus dem Mund nimmt, mir tief in die Augen und auf den Grund meines Herzens schaut und sagt:

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Apostel45 am So, 06.07.2025 - 12:23 Link

Lieber Herr Professor, selbst wohlwissend ob Ihrer Koryphäen-Stellung, bedanke ich mich für diesen lebensnahen und -bejahenden Erlebnisbericht, jede Zeile spannender nachvollziehbarer Text für mich als Hypochonder, mit dem offenen, aber erwartbaren Ende. Dazu fällt mir immer wieder der Rat, besser die für mich selbst noch im Alter von 80 Jahren glaubensbedeutendsten Worte meines berühmten, leider gesellschaftlich vergessenen Leipziger Nachbarn ein, DER Wende-Pfarrer Dr. h.c. Christoph Wonneberger, auf meine 'agnostische' Bemerkung mangelnder Glaubensfähigkeit an Gott, jedoch ob des Wissens um das Leben Jesu: Zitat "Dann glaube doch einfach SEINEN Worten." Vielleicht sollte die Kirche verstärkt vom Leben und Wirken Jesus Christi sprechen / predigen, um die Brücke des Glaubens an eine christliche Gemeinschaft mit gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erhalten und zu fördern.