Das Flugzeug steht bereit, am Gate haben alle eingecheckt. Wir werden in den Bus gerufen, der uns zum Flugzeug draußen auf dem Rollfeld bringen soll. Eine Boarding-Gruppe nach der anderen, alles Routine. Der Flug geht nach Hermannstadt. Ich bin auf dem Weg zu einer großen Konferenz. Plötzlich aber die Durchsage: Alle aussteigen, zurück ins Terminal und auf weitere Anweisungen warten. Der Mitarbeiter der Fluggesellschaft erzählt, wo das Problem liegt: Das Flugzeug sei schon da, nur sei darin ein Passagier im Rollstuhl und es gäbe niemanden, der ihm aus dem Flugzeug helfen könne. Personalmangel. Eine Stunde, vermutlich länger, muss dieser arme Mensch im Flugzeug gesessen haben, bis jemand gekommen ist, um den Rollstuhl auszuladen. Was für eine unangenehme Situation. Auch für uns, die neuen Fluggäste.
Während meines Aufenthalts in Siebenbürgen bin ich dann auch in einer kleinen Landgemeinde zum Gottesdienst eingeladen. Die altehrwürdige Kirche ist schön renoviert und der Pfarrer jung und dynamisch. Er hat Kaffee gekocht und Menschen aus der Gemeinde haben Kuchen gebacken. Ein Sonntagmorgen in einem Dorf am Rande der Karpaten. "Ich gehe davon aus, dass es diese Gemeinde in 20 oder 30 Jahren nicht mehr gibt", sagt der Pfarrer. Warum er so pessimistisch sei, wollen wir wissen, denn der Mann wirkt wie jemand, der Menschen begeistern kann, sicher auch junge Leute erreicht und einfach ein lockerer Typ ist. "Der Altersdurchschnitt der Gemeinde ist über 60, wahrscheinlich sogar eher 70. Die Familien dieser Generation aber seien nicht mehr im Dorf, erzählt er. Sie arbeiten in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz. Die Fabrik am Ort sei nach der Wende geschlossen worden. Seitdem ist die Luft sauber, der Ruß ist endlich verschwunden, aber mit ihm auch die Arbeitsplätze und die Menschen. Die fahren heute LKW in ganz Europa oder arbeiten in Deutschland in der häuslichen Pflege.
An einem deutschen Flughafen fehlen dringend die Fachkräfte, egal ob aus Deutschland oder dem Ausland. Und auf der anderen Seite blutet das rumänische Dorf aus, weil die guten Arbeitsplätze im Ausland sind. Ich bin zweimal Zeuge von Krisen geworden, liebe Hörerinnen und Hörer. Und durch solche Erlebnisse bekommen Krisen ein Gesicht. Ich erlebe unmittelbar die Ohnmacht der Betroffenen. Das gehört zu Krisen dazu. Sie lösen immer Ohnmacht aus, nicht nur für die Beteiligten. Sie überträgt sich. Welche Zerrissenheit und Ohnmacht müssen jene spüren, die für einen Arbeitsplatz und um sich eine Existenz aufzubauen, ihre Heimat verlassen müssen?
"Krisenmodus" wurde zum Wort des Jahres 2023 gewählt. Damit wird ein Begriff ausgezeichnet, der die öffentliche Debatte des Jahres geprägt hat. Der Ausnahmezustand sei zum Dauerzustand geworden, so begründet die Jury ihre Entscheidung. Das löst Angst aus bei den Menschen. Auch vor dem, was noch kommen mag. Gefühle wie Unsicherheit und Ohnmacht beherrschen den Alltag.[1]
Nun ist das Jahr 2024 bereits bald Geschichte. Das Wort "Krisenmodus" hätte aber auch heuer sehr gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Eine Hand reicht gar nicht aus, um alle Krisen aufzuzählen, in denen wir stecken und ich verzichte darauf, sie hier aufzuzählen. Die Liste zwischen Krieg und Kima hat jeder parat. Und die großen und kleinen persönlichen Krisen sind da noch gar nicht mitgezählt. Wäre ich ein Schwarzmaler, dann bräuchte ich momentan wohl einen sehr großen Farbtopf. Die Krise als neuer Dauerzustand, oder das "neue Normal", wie man zu sagen gelernt hat. Krisenmodus als Lebensmodus? Ich bin kein Schwarzmaler. Für mich ist die wichtigste Frage: wie können wir leben mit Krisen, ohne dass sie nur lähmen und blockieren? Ohne dass wir uns darin einrichten…
Die Krise als Moment der Entscheidung
Das Wort "Krise" kommt aus dem alten Griechisch und hat da eine Bedeutung, die wir heute gar nicht mehr so genau kennen – und die verschleiert wird, wenn wir vom Krisenmodus als Dauerzustand sprechen. "Krise" kommt von "Krisis" und heißt eigentlich "Entscheidung". Damit wird der Höhepunkt oder Wendepunkt in einer Entwicklung beschrieben. Ganz dramatisch hieß das in der hippokratischen Medizin, dass sich in der "Krise", also auf dem Höhepunkt der Krankheitsentwicklung, entscheidet, in welche Richtung es weitergeht: Kann der Patient die Krankheit überwinden, oder führt sie zum Tod?
Der Psalm 16 kommt ohne das Wort "Krise" aus, doch erzählt er von solch einer Weggabelung des Lebens. Und wer auch immer diesen Psalm damals gebetet hat, er oder sie hat sich für einen Weg entschieden:
Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.
Ich bewundere diese Klarheit und die Hoffnung, die aus diesen Worten strahlt. "Ich weiß von keinem Gut außer dir! Nur bei dir finde ich mein ganzes Glück" Da hat jemand eine Richtung genommen und einen Weg gewählt. Woher aber weiß der Psalmbeter, dass die "viel Herzeleid" haben, die einen anderen Weg gehen? Ich ringe damit und tue mich schwer, das zu hören. Denn klingt es nicht ein bisschen zu sehr "schwarz/weiß"? Und sind nicht gerade diese Zuspitzungen auch der Grund für manche Konflikte und Krisen, die uns das Leben so schwer machen? Klingt da nicht sogar die eifernde Stimme eines religiösen Fundamentalisten? Braucht ein Mensch, der sein ganzes Glück und Vertrauen in Gott findet, überhaupt diese Abgrenzung?
Zunächst ist es ganz normal, bei einer Entscheidung davon auszugehen, dass der andere Weg der schlechtere gewesen wäre. Auch wenn ich es nicht ganz sicher sagen kann, so ist das doch meine Vermutung. Woran glaube ich? Gott und "Gott" ist nicht dasselbe. Auch in geistlichen Dingen muss ich wählen zwischen religiösen Wegen, die ins Leben oder in den Tod führen. Da ist das Gift des politischen Islam und des fundamentalistischen Christentums. Der Psalm lobt den Gott der Witwen und Waisen, den Gott, der aus der Sklaverei befreit und den Menschen aufrichtet. Psalm 16 ist so gesehen ein Liebeslied – du musst wählen, was du liebst.
Miteinander reden, statt übereinander
Da stehen wir also miteinander an Kreuzungen und an Scheidewegen und fragen uns im Krisenmodus unserer Tage: Wohin nur? Im Psalm 16 stecken dazu schöne Gedanken:
Der Ewige ist mein Gut und mein Teil; du hältst mein Los in deinen Händen! Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden. Ich lobe den Ewigen, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts. Ich habe den Ewigen allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht. Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen.
Gott hat mich beraten, er hält mein Los, mein Schicksal, in der Hand und kümmert sich um mein Herz – sogar nachts. Es geht also gar nicht so sehr um die eine große und richtige Entscheidung, sondern eher um eine Grundeinstellung. Um eine Haltung, die sich daraus formt, dass Gott einen Platz in meinem Herz gefunden hat. Wem das zu kitschig klingt: Es geht um die Charakterfrage. Wonach richte ich mich aus? Wie kommt Gott in meinem Leben vor. Damit sind wir wieder mitten im Alltag, und ich bin sicher, dass es heute eher merkwürdig wäre, wenn ich am Arbeitsplatz oder mit Kumpels ständig von Gott reden würde. Wie ich mit mir selbst und den anderen umgehe, das ist entscheidend. Wenn in mein Denken eingesickert ist, wie etwa Jesus das Leben geliebt hat und mit Menschen umgegangen ist, dann macht das was mit meinem Blick auf die, die um mich herum sind. Er hat ein paar Dinge gemacht, die so banal scheinen und doch die Welt verändern: Er hat zum Beispiel nicht ÜBER Kranke geredet, sondern hat MIT ihnen geredet. Das versuche ich, mir zum Vorbild zu nehmen: Mit Menschen reden, nicht über sie. Und Jesus hat die Leute direkt angesprochen, mit denen er Konflikte hatte – die Pharisäer und Schriftgelehrten zum Beispiel –, er hat nicht hintenrum über sie gelästert. Das Internet wirkt da wie ein Brandbeschleuniger: Eine alarmierende Studie der Organisation Hate-Aid beschreibt, dass 50% - also die Hälfte – aller Menschen zwischen 18 und 35 schon einmal digitale Gewalt erlebt hat. Beleidigungen, Drohungen, bis hin zu sexueller Belästigung. Besonders groß ist die Angst bei Frauen: 52% äußern ihre Meinung seltener aus Angst vor Bedrohungen[2].
Viel schwerer ist es heute, an die oft anonymen Täter heranzukommen. Und doch braucht es Menschen, die im digitalen Raum der Gewalt widersprechen. Die bleibende Aussichtslosigkeit und das Gefühl der Ohnmacht zeigt, dass der Weg zum Leben, den der Psalm beschreibt, manchmal schmal und verschlungen ist.
Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.
Und doch gibt es Hoffnung!
So endet der Psalm. Auf der großen Konferenz in Hermannstadt haben fast 100 evangelische Kirchen in Europa teilgenommen. Aus Dänemark und Irland, aus Ungarn und Spanien, aus der Schweiz und aus Island, und vielen, vielen Ländern mehr… und auch aus Russland und der Ukraine. Bischöfinnen und Bischöfe waren da, Pfarrerinnen und Pfarrer, sowie Ehrenamtliche und Menschen aus den Universitäten. Eine Woche lang wurde an den Fragen unserer Zeit gearbeitet. Wie können Kirchen das demokratische Miteinander stärken? Was können wir gemeinsam zum Palästina-Israel-Konflikt sagen? Wie können wir jene besser begleiten, die in ein anderes EU-Land ziehen, um dort zu arbeiten? Und es sind solche Momente, die mir etwas erzählen vom "Weg zum Leben", von dem ich im Psalm lese. Es sind die Momente, in denen etwas aufbricht, Menschen zueinander finden und Wege zum Leben suchen – gemeinsam, nicht gegeneinander. Es hat mich tief bewegt, wir der Russe und der Ukrainer im Gottesdienst gemeinsam einen Bibeltext gelesen haben, jeder in seiner Sprache. Es war ein Text über Frieden…
Menschen haben miteinander geredet, argumentiert, Trauer und Freude erlebt und auch innerlich gerungen. Sprachbarrieren und Missverständnisse inklusive. Vielleicht war aber genau dieser Weg wichtiger als die erreichten Ergebnisse. So viel Gelegenheit zum Zuhören, zum Austausch. Ich lerne dabei: Die Krisen lösen sich selten durchs "Recht haben", sondern durchs Zuhören und gemeinsame Suchen nach Antworten. Wie in den Geschichten des Mannes, der nicht aus dem Flugzeug ausgeladen werden kann, und dem Dorf in Rumänien: Wer hat hier Recht? Soll man es den jungen Erwachsenen in Rumänien vorhalten, dass sie ihr Dorf und damit die jahrhundertealte siebenbürgische Tradition vor Ort verlassen? Soll man es den deutschen Unternehmen vorhalten, dass sie sich zu wenig um Fachkräfte aus dem Ausland bemühen, um Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft zu sichern? In solchen Situationen haben tatsächlich alle erst einmal Recht, und jedes "schwarz/weiß" greift zu kurz. Was hilft: Zuhören, um zu verstehen. Gemeinsam nachdenken: Was können wir tun, wenn wir unsere Kräfte zusammenlegen? Wenn beide Seiten in den Blick kommen? Der "Weg zum Leben" führt durch solche Gespräche hindurch und führt in Richtung – wie es der Psalm sagt – Fülle und Wonne.
Aber manchmal muss man Kante zeigen. Gegen etwas sein. Der Weg zum Leben ist ein schmaler Pfad, während die breite Straße manchmal in Kriege und Hass führt. Menschenverachtende Polterer bekommen momentan weltweit viel Applaus, im Internet sowieso, aber auch in der Wahlkabine.
Ein Kollege erzählt mir vom Nachbarschaftsfest in seiner Wohnsiedlung. Jedes Jahr organisieren ein paar Nachbarn einen Grillabend, man kennt sich schon lange und redet über dies und das. Plötzlich fängt einer an von einem Deutschland ohne Ausländer zu phantasieren - obwohl seine eigenen Wurzeln auch nicht in Deutschland liegen. "Da hat es mir gereicht, ich habe etwas gesagt". Erzählt mein Kollege. "Das ist das erste Mal, dass ich so direkt was gesagt habe, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten."
Zum schmalen Pfad zum Leben gehört auch die Abgrenzung dazu. Nicht gegen Menschen, sondern gegen Einstellungen, Haltungen und Aussagen, die wie ein Gift der Spaltung wirken.
Für ein Land im Krisenmodus heißt das, dass wir unbedingt viel mehr miteinander reden müssen und noch mehr zuhören. Nicht alles ist so schlimm, wie es aussieht, aber wo der Konflikt brennend ist, da braucht es eine Vision vom "Pfad zum Leben". "Du, Gott, tust ihn mir kund", sagt der Psalm.
Ich möchte das Wort "Krisenmodus" nicht noch einmal als Wort des Jahres haben. Stattdessen schlage ich ein anderes Wort vor. Etwas, was manche für völlig verrückt, auf jeden Fall aber für reichlich naiv, halten. Es ist aber ein Wort, das eine Kraft entfaltet, die kaum ein anderes Wort besitzt. Ich spreche von "Hoffnung". Das ist der unvernünftige Moment, in dem 1+1 nicht 2 ergibt, sondern plötzlich 3 oder 7. Will sagen: Es geschehen Dinge, die nicht voraussehbar sind – geschweige denn planbar.
In Irland zum Beispiel. Eine irische Band hat dort vermutlich das geschafft, was Politiker seit Jahrzehnten nicht hinbekommen haben – nämlich, dass die Stimmung im Nordirland-Konflikt kippte. Seit über 100 Jahren, seit 1916 haben sich die protestantischen und katholischen Untergrundbewegungen bekämpft. Über 100.000 Bombenanschläge haben seitdem diesen bürgerkriegsähnlichen Konflikt zur Hölle auf Erden gemacht. Als dann 1993 zwei völlig unbeteiligte Kinder durch eine Bombe in einem Müllcontainer sterben, reicht es der jungen Sängerin Dolores O’Riordan. Sie setzt sich hin und komponiert eines der bewegendsten Anti-Kriegslieder unserer Zeit: Zombie von ihrer Band "Cranberries". Ihr gelingt es, die völlige Sinnlosigkeit des Tötens zu zeigen. Die Terrorkämpfer werden als hirnlose Zombies gekennzeichnet, als Tötungsmaschinen. Mit zunehmend fordernder Stimme, immer lauter werden ihre Wehschreie, bis schließlich nur noch das Wort "Zombie" herausgebrüllt wird. Das Lied wird – wider Erwarten – ein voller Erfolg, eine Hymne der 1990er Jahre. YouTube zählt 1,5 Milliarden Aufrufe des Videos und all die unzähligen CDs und Kassetten sind da noch nicht mitgezählt. Keine Party, keine Disko der 90er kam ohne diese laute Friedensbotschaft aus. Und 1998 war mit dem Karfreitagsabkommen dieser Konflikt dann tatsächlich erstmal beendet. Ob die mittlerweile jung verstorbene Dolores O’Riordan das mit ihrem Lied ausgelöst hat? Möglich wäre es, denn nach diesen Zeilen hatte niemand in Irland mehr Verständnis für die sinnlose Gewalt.
"An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser", soll Charlie Chaplin gesagt haben. Vielleicht stimmt das. Aber möglicherweise sieht man, wie bei einem der beiden Wege am Horizont die Hoffnung aufgeht. Das wäre dann der "Weg zum Leben", den der Psalm uns heute Morgen erzählt. Damit ist eine erste Orientierung gefunden – und wer weiß? Vielleicht gelingen die nächsten Schritte dann von allein. Ihre – und meine.
[1] Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/wort-des-jahres-krisenmodus-100.html
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