Mehr Arbeit? Millionen leisten sie längst – unbezahlt

"Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten" – so lautete Friedrich Merz' zentrale Botschaft in seiner ersten Regierungserklärung.

Der neue Bundeskanzler erklärt der Work-Life-Balance den Kampf, die Vier-Tage-Woche soll Geschichte werden, bevor sie sich überhaupt flächendeckend durchgesetzt hat. Merz' Diagnose: Kürzere Arbeitszeiten schaden der deutschen Wirtschaft. Seine Therapie: längere Arbeitstage, weniger Pausen.

Doch Merz' Rechnung übersieht einen entscheidenden Faktor in der deutschen Gesellschaftsbilanz: das Ehrenamt. Während der Kanzler die Deutschen zu mehr Lohnarbeit anhält, leisten Millionen von ihnen bereits Arbeit – nur eben ohne dafür bezahlt zu werden.

Diese Arbeit droht durch Merz' Forderung unter die Räder zu geraten – denn sie wird meist zusätzlich zur Erwerbsarbeit oder im Ruhestand geleistet. Die implizite Annahme dahinter: Die Menschen seien fauler geworden. Und genau darin liegt der Trugschluss.

Ehrenamt: Das unterschätzte Rückgrat der Gesellschaft

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Etwa 16,4 Millionen Menschen engagieren sich ehrenamtlich in Deutschland. Sie trainieren Jugendmannschaften, betreuen ältere Menschen, sind im Kirchenvorstand aktiv, helfen in Tafeln, organisieren Dorffeste, löschen Brände.

Sie arbeiten – nur anders, als Merz es meint: Ohne dass sie und andere damit Geld verdienen.

Auffällig ist: Diese Zahlen sind rückläufig. Und der Frauenanteil liegt deutlich über 50 Prozent, besonders in den Kirchen. Dies wirft eine grundsätzliche Frage auf: Was bringt eine stabile Wirtschaft, wenn das gesellschaftliche Leben auseinanderbricht?

Arbeit ist mehr als Erwerb – und braucht Pausen

Ehrenamtliche schaffen keinen materiellen Wohlstand im klassischen Sinne, sie produzieren keine Exportüberschüsse, bringen Börsenkurse nicht zum Steigen oder Sinken.

Aber sie produzieren etwas anderes, grundlegenderes: Gemeinschaftsgefühl, Zusammenhalt, Lebensqualität.

Diesem Verständnis liegt ein christlich geprägtes Arbeitsethos zugrunde, das zwei Prinzipien kennt: Produktiv ist nicht nur das, was bezahlt wird – und Arbeit braucht Ruhe. 'Am siebten Tag sollst du ruhen‘ heißt es im zweiten Buch Moses. 

Diese Erkenntnis dürfte jedem vertraut sein, der schon einmal von ehrenamtlichen Händen aufgefangen wurde, beobachtet hat, wie aus einem Haufen kickender Kinder ein Team geschmiedet wird, oder durch einen Einsatz der Freiwilligen Feuerwehr nochmal glimpflich davongekommen ist.

Manche Arbeit ist nicht nur unbezahlt, sondern auch unbezahlbar. Und für diese Arbeit braucht es Zeit, Freiraum – und eine funktionierende Work-Life-Balance.

Zukunft sichern heißt: Arbeit neu bewerten

Hinzu kommt: Nicht nur Teilzeit ist überwiegend weiblich, sondern auch das Ehrenamt. Ausgerechnet jene, die oft in Teilzeit arbeiten müssen, übernehmen zusätzlich die unbezahlte Sorgearbeit für die Gesellschaft.

Die entscheidende Frage lautet daher nicht, ob die Deutschen mehr arbeiten müssen. Sie lautet, welche Arbeit gesellschaftlich wertgeschätzt wird – und warum.

Die demografische Entwicklung verschärft diese Problematik: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, der Arbeitsmarkt weist bereits erhebliche Lücken auf, die weiter wachsen werden. Gleichzeitig sinkt die Qualifikation der nachwachsenden Generation – der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss stieg von vier Prozent im Jahr 2018 auf 5,9 Prozent im Jahr 2024.

Mehr Arbeit löst das Problem nicht, erst recht nicht, wenn die Menschen fehlen. Und selbst wer prinzipiell 40 Stunden die Woche arbeitet, kann ausfallen: Das Gesamtarbeitsvolumen schrumpft, wenn Menschen aufgrund von Überlastung häufiger krankgeschrieben sind und ausfallen.

Flexiblere Arbeitszeiten schaffen also nicht nur Raum für gesellschaftliches Engagement – sie kurbeln auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität an. Eine Win-win-Situation.

Wie gesellschaftliches Engagement Wirtschaft und Gemeinschaft stärkt

Vielleicht liegt genau darin die Ironie: Merz' Appell könnte ihre eigene Lösung gebären: Die Generation der Babyboomer, die dem Arbeitsmarkt bald nicht mehr zur Verfügung steht, wird sich in naher Zukunft möglicherweise verstärkt ehrenamtlich engagieren – und so zur gesellschaftlichen Stabilisierung beitragen.

Das Arbeitsverständnis verschiebt sich dabei nicht im Sinne geringerer Leistung. Eine ausgewogene Work-Life-Balance kann auch bedeuten, Kräfte gezielter einzusetzen, wo sie wirklich gebraucht werden – im Erwerbsleben wie im Ehrenamt. Denn wenn noch mehr Menschen ihre Zeit damit verbringen, interne Reports zu erstellen, die niemand liest, Meetings über Strategien abzuhalten, die nie umgesetzt werden, oder Social-Media-Kampagnen für Produkte zu planen, die keiner braucht – dann bringt uns das weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich voran.

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